Maurice Blanchot ================ Der Wahnsinn des Tages Ich bin weder wissend noch unwissend. Ich habe Freuden gekannt. Mehr: ich lebe und finde größten Gefallen an diesem Leben. Und der Tod? Wenn ich sterbe (vielleicht noch in dieser Stunde), werde ich unermeßliche Freuden kennen. Ich spreche nicht vom Vorgeschmack des Todes, der fade ist und oft unangenehm. Leiden stumpft ab. Dies aber ist die bemerkenswerte Wahrheit, derer ich gewiß bin: Leben bereitet mir grenzenlose Lust, und Sterben wird mir grenzenlose Befriedigung sein. Ich bin umhergeirrt, bin von Ort zu Ort gegangen. In Zeiten der Ruhe hielt ich mich in einem einzigen Zimmer auf. Ich war arm, dann reicher, dann wieder ärmer als viele. Als Kind hatte ich heftige Leidenschaften, und alles, was ich begehrte, erhielt ich. Meine Kindheit ist verschwunden, meine Jugend dahingegangen. Was liegt daran! Ich bin glücklich über das, was war, was ist, gefällt mir, was kommt, kommt mir recht. Ist mein Dasein besser als das der anderen? Das mag sein. Ich habe ein Dach über dem Kopf, viele nicht. Ich bin nicht aussätzig, und ich bin nicht blind, ich sehe die Welt, welch außergewöhnliches Glück! Ich sehe den Tag - den Tag, außerhalb dessen nichts ist. Wer könnte mir das nehmen? Und wenn dieser Tag verlischt, verlösche ich mit ihm; dieser Gedanke, diese Gewißheit versetzt mich in Entzücken. Ich habe Menschen geliebt, ich habe sie verloren. Ich bin darüber wahnsinnig geworden, denn das ist die Hölle. Aber mein Wahnsinn blieb ohne Zeugen, meine Verstörtheit kam nicht zum Vorschein, nur mein Innerstes war wahnsinnig. Manchmal wurde ich wütend. Man sagte zu mir: Warum sind sie so ruhig? Dabei brannte ich am ganzen Körper. Nachts strich ich heulend durch die Straßen, am Tag arbeitete ich friedlich. Kurz darauf entfesselte sich der Wahnsinn der Welt. Man stellte mich an die Wand wie viele andere auch. Weswegen? Wegen nichts. Die Gewehre gingen nicht los. Ich sagte bei mir: Gott, was machst du? Ich habe dann aufgehört, mich unsinnig aufzuführen. Die Welt zögerte - und kam dann wieder ins Gleichgewicht. Mit der Vernunft kam mir auch die Erinnerung zurück, und ich sah, daß ich selbst an den schlimmsten Tagen, wenn ich mich ganz und gar unglücklich glaubte, fast immer äußerst glücklich war. Das gab mir zu denken. Diese Entdeckung war nicht angenehm. Es schien mir, daß ich dadurch viel verlöre. Ich nahm mich ins Verhör: War ich denn nicht traurig gewesen, hatte ich nicht gefühlt, wie mein Leben zerbrach? Ja, so war es. Doch ob ich nun aufstand und durch die Straßen lief oder ob ich unbeweglich in einer Ecke des Zimmers verharrte, jeden Augenblick spürte ich, wie die Kühle der Nacht und die Festigkeit des Bodens mich aufatmen ließen und mir tiefe Freude schenkten. Die Menschen möchten dem Tod entgehen, was für eine seltsame Gattung. Und einige schreien: sterben, sterben, weil sie dem Leben entgehen möchten. «Was ist das für ein Leben, ich töte mich, ich gebe auf.» Das ist erbärmlich und seltsam, das ist ein Irrtum. Ich habe indessen Menschen getroffen, die zum Leben nie gesagt haben, sei still, und zum Tod nie, geh weg. Fast immer waren es Frauen, bewundernswerte Geschöpfe. Die Männer sind vor Schreck gelähmt, die Nacht durchbohrt sie, sie sehen ihre Pläne zunichte gemacht, ihre Arbeit zu Staub zerfallen; sie sind perplex, sie hielten sich für bedeutend, wollten die Welt beherrschen, alles stürzt zusammen. Wie meine Prüfungen beschreiben? Ich konnte weder gehen noch atmen, noch mich ernähren. Mein Atem war aus Stein, mein Leib aus Wasser, und doch verdurstete ich. Eines Tages steckte man mich in die Erde, die Ärzte bedeckten mich mit Schlamm. Was für ein Aufruhr in der Tiefe dieser Erde! Wer sagt, daß sie kalt sei? Sie brennt wie Feuer, sie ist ein Dornenbusch. Völlig gefühllos stieg ich aus ihr heraus. Mein Tastsinn irrte mir zwei Meter voraus: Wenn jemand mein Zimmer betrat, schrie ich auf, aber das Messer drang ruhig in mich. Ja, ich wurde zum Skelett. Nachts richtete sich meine Magerkeit wie ein Schreckgespenst vor mir auf. Sie überhäufte mich mit Beschimpfungen, ermüdete mich mit ihrem ständigen Kommen und Gehen. Ach, ich war so müde. Bin ich egoistisch? Gefühle habe ich nur wenige, Mitleid mit niemandem; ich habe selten Lust zu gefallen, selten Lust, daß man mir gefalle, und ich - mir selbst gegenüber fast gleichgültig -, ich leide nur an ihnen, so sehr, daß ihre geringsten Nöte mir unendlichen Schmerz zufügen. Trotzdem, wenn es sein muß, opfere ich sie kurz entschlossen, ich nehme ihnen jedes beglückende Gefühl (es kommt vor, daß ich sie töte). Aus dem Schlammloch bin ich mit der Kraft der Reife herausgestiegen. Was war ich vorher? Ein Wassersack, eine tote Fläche, eine schlafende Tiefe. (Dennoch wußte ich, wer ich war, ich hielt aus, ich fiel nicht ins Nichts.) Man kam von weither, um mich zu sehen. Die Kinder spielten an meiner Seite. Die Frauen legten sich auf die Erde, um mir die Hand zu geben. Auch ich habe meine Jugend gehabt. Doch die Leere hat mich enttäuscht. Ich bin nicht furchtsam, ich habe Schläge eingesteckt. Jemand (ein Mann, der außer sich war)nahm meine Hand und stach sein Messer hinein. Das Blut floß in Strömen. Da begann er zu zittern. Er bot mir seine Hand, damit ich sie auf den Tisch oder an die Tür nagle. Weil er mich verletzt hatte, glaubte dieser Mann, ein Verrückter, er sei jetzt mein Freund. Er stieß mir seine Frau in die Arme; er folgte mir auf die Straße und schrie: «Ich bin verdammt, ich bin das Spielzeug eines unzüchtigen Rausches, ich will beichten, ich will beichten!» Ein sonderbarer Verrückter. Währenddessen tropfte das Blut auf meinen einzigen Anzug. Ich lebte vor allem in den Städten. Eine zeitlang war ich ein Mann des öffentlichen Lebens. Die Lex - das Gesetz - zog mich an, die Menge gefiel mir. Ich war verborgen im anderen. Ein Nichts, war ich doch souverän. Aber eines Tages war ich es müde, der Stein zu sein, der die einzelnen steinigt. Um die Lex in Versuchung zu führen, rief ich leise: «Komm näher, daß ich dir ins Gesicht sehe.» (Ich wollte sie für einen Augenblick auf die Seite nehmen.) Eine gewagte Aufforderung! Was hätte ich gemacht, wenn sie geantwortet hätte? Ich muß gestehen, ich habe viele Bücher gelesen. Wenn ich nicht mehr sein werde, werden sich all diese Bände unmerklich verändern: größer die Ränder, kraftloser die Gedanken. Ja, ich habe mit zu vielen Menschen gesprochen, das setzt mich heute in Erstaunen. Jeder einzelne war ein ganzes Volk für mich gewesen. Der grenzenlose Nächste hat mich selbst zu viel mehr gemacht, als ich gewollt hätte. Jetzt ist mein Dasein von überraschender Widerstandsfähigkeit, sogar die tödlichen Krankheiten halten mich für zäh wie Leder. Ich bitte um Entschuldigung, aber ich werde etliche Leser vor mir beerdigen müssen. Langsam geriet ich ins Elend. Die Not zog allmählich ihre Kreise um mich, deren erster mir alles zu lassen schien, deren letzter mir aber nur noch mich selbst lassen würde. Eines Tages fand ich mich in der Stadt eingeschlossen: Reisen war nur mehr eine Legende. Das Telephon blieb stumm. Meine Kleidung war abgetragen. Ich litt unter der Kälte; den Frühling, schnell! Ich ging in Bibliotheken. Ich hatte mich mit einem Angestellten angefreundet, der mir zu den überheizten Kellerräumen Zutritt gewährte. Um ihm gefällig zu sein, turnte ich fröhlich über eine winzige Holzstege und brachte ihm die Bände, die er dann dem trüben Geist der Lektüre aushändigte. Aber dieser Geist brachte wenig liebenswerte Worte gegen mir vor: Unter seinen Augen schrumpfte ich ein, er sah mich, wie ich war, ein Insekt, ein Zangenkäfer, der aus den düsteren Gegenden des Elends kam. Wer war ich? Es hätte mir großes Kopfzerbrechen bereitet, auf diese Frage zu antworten. Draußen hatte ich eine flüchtige Vision: Zwei Schritte entfernt, genau an der Ecke der Straße, wo ich abbiegen sollte, stand eine Frau mit einem Kinderwagen. Ich konnte sie nur schlecht sehen, sie schob den Wagen hin und her, um durch das Hoftor zu gelangen. In diesem Augenblick ging ein Mann durch das Tor, den ich nicht hatte kommen sehen. Er hatte schon den Fuß auf der Schwelle, als er eine Kehrtwendung macht und zurücktrat. Während er neben dem Eingang wartete, fuhr der Kinderwagen an ihm vorüber, hob sich sacht, um über die Schwelle zu setzen, und die junge Frau verschwand ihrerseits, nachdem sie den Kopf gehoben hatte, um ihn anzusehen. Diese kurze Szene stürzte mich in einem Taumel. Zweifellos konnte ich es mir nicht ganz erklären, und doch war ich sicher: Ich hatte den Augenblick erfaßt, da der Tag, weil er über ein wahres Ereignis gestolpert war, seinem Ende entgegeneilen würde. Jetzt kommt es, sagte ich mir, das Ende kommt, etwas geschieht, das Ende beginnt, Freude ergriff mich. Ich ging zu jenem Haus, blieb aber davor stehen. Durch die Toröffnung sah ich die Stirnseite eines finsteren Hofes, Ich lehnte mich draußen gegen die Hauswand. Mir war sehr kalt. Die Kälte umhüllte mich von Kopf bis Fuß; ich fühlte wie meine riesige Gestalt allmählich die Ausmaße dieser unendlichen Kälte annahm, ruhig wuchs sie empor, den Rechten ihrer wahren Natur gehorchend. Und ich verharrte in der Freude und Vollkommenheit dieses Glücks, einen Augenblick lang reichte mein Kopf an die Feste des Himmels, dabei standen meine Füße auf dem Pflaster. All das war wirklich, merkt euch das! Ich hatte keine Feinde. Niemand belästigte mich. Bisweilen entstand in meinem Kopf eine ungeheure Einsamkeit, in der die Welt ganz unterging; doch kam sie daraus unversehrt wieder zum Vorschein, ohne einen Kratzer, nichts fehlte ihr. Ich hätte beinahe das Augenlicht verloren, als mir Glas im Gesicht zersplitterte. Ich muß zugeben, daß mich das erschüttert hat. Ich meinte, auf eine Mauer zu prallen, in einem Funkenbündel umherzuirren. Das Schlimmste war die plötzliche, furchtbare Grausamkeit des Tages; weder konnte ich schauen noch konnte ich nicht schauen; zu sehen war gräßlich, und nicht zu sehen vermochte ich nicht, es zerriß mich von der Stirn bis zum Hals. Überdies hörte ich Hyänenschreie, so daß ich mich von einem Raubtier bedroht fühlte (diese Schreie, glaube ich, waren meine eigenen). Als die Glassplitter entfernt waren, schob man mir einen Schutzfilm unter die Lider, auf die dann ein Wall von Watte kam. Ich durfte nicht sprechen, da das Sprechen den Verband verschob. «Sie haben geschlafen», sagte der Arzt später. Ich und schlafen! Ich mußte dem Licht der sieben Tage standhalten: eine schöne Feuersbrunst! Ja, die ganzen sieben Tage auf einmal, das siebenmalige Licht des Anfangs, in einem einzigen Augenblick lebendig geworden, forderte Rechenschaft von mir. Was für eine Vorstellung! Manchmal sagte ich mir: «Das ist der Tod; dennoch lohnt es sich, es ist beeindruckend.» Oft aber starb ich, ohne etwas zu sagen. Mit der Zeit wurde es mir zur Gewißheit, daß ich dem Wahnsinn des Tages ins Gesicht sah. Das also war die Wahrheit: das Licht wurde verrückt, die Klarheit hatte allen Verstand verloren. Sie fiel mich an ohne alle Vernunft, regellos und ohne Ziel. Diese Entdeckung war ein Biß durch mein Leben. Ich und schlafen! Beim Erwachen mußte ich hören, wie ein Mann fragte: «Wollen sie Anzeige erstatten?» Eine seltsame Frage für jemanden, der es unmittelbar mit dem Tag zu tun hatte. Selbst als ich wieder geheilt war, zweifelte ich an meiner Genesung. Ich konnte weder schreiben noch lesen. Ich bewegte mich in einem nebligen Norden. Aber seltsamerweise ging ich, obwohl ich mich an die qualvolle Berührung erinnerte, bei diesem Leben hinter zugezogenen Vorhängen und getönten Gläsern fast zugrunde. Ich wollte etwas in vollem Tageslicht sehen; ich hatte die Annehmlichkeit und Behaglichkeit des Halbdunkels satt. Ich begehrte den Tag, wie man nach Wasser und Luft verlangt. Und wenn sehen Feuer bedeutet, so verlangte ich nach dem Feuer in all seiner Macht, und wenn sehen hieß, sich mit Wahnsinn anstecken, so begehrte ich den Wahnsinn wie wahnsinnig. Man gab mir einen kleinen Posten im Hause. Ich nahm die Telefonanrufe entgegen. Da der Doktor ein Labor hatte (er interessierte sich für Blut), kamen Leute zu uns, denen man ein Präparat zu trinken gab. Ausgestreckt auf kleinen Betten schliefen sie ein. Jemand griff zu einer bemerkenswerten List: Nachdem er das übliche Mittel geschluckt hatte, nahm er Gift und viel in Koma. Der Arzt nannte das eine Gemeinheit. Er holte ihn wieder ins Leben zurück und «erstattete Anzeige» gegen diesen betrügerischen Schlaf. Schon wieder! Der Kranke, scheint mir, hatte Besseres verdient. Obgleich meine Sehkraft kaum vermindert war, bewegte ich mich auf der Straße wie eine Krabbe. Ich hielt mich an den Häuserwänden fest, sobald ich die losließ, schwindelte mir. An diesen Häuserwänden sah ich oft das gleiche anspruchslose Plakat, auf dem in ziemlich großen Buchstaben stand: Auch du willst es. Sicher wollte ich es, und jedesmal, wenn ich auf diese beachtlichen Worte stieß, wollte ich es. Dennoch hörte etwas in mir ziemlich schnell auf zu wollen. Lesen ermüdete mich sehr. Lesen ermüdete mich nicht weniger als sprechen, und das geringste wahre Wort ging über meine Kräfte. Man sagte zu mir: Sie gefallen sich in ihren Schwierigkeiten. Diese Äußerung erstaunte mich. Wäre ich zwanzig Jahre alt gewesen und in derselben Lage, hätte mich niemand beachtet. Nun, mit vierzig und nahezu verarmt, verachtete man mich. Woher kam dieses unerfreuliche Aussehen? Meiner Meinung nach holte ich mit das von der Straße. Die Straßen bereicherten mich nicht so, wie zu erwarten gewesen wäre. Im Gegenteil, auf Trottoirs zu gehen, in die Helligkeit der Untergrundbahnen einzutauchen, breite, wunderschöne Straßen entlangzulaufen, wo die Stadt ihre ganze Pracht entfaltete, betrübte mich über die Maßen, machte mich bescheiden und müde, und weil ich einen außerordentlich großen Teil des anonymen Verfalls in mich aufnahm, zog ich die Blicke um so mehr auf mich, als dieses Aussehen nicht zu mir zu passen schien und aus mir etwas Vages und Formloses machte. Es schien aufgesetzt, war eine Herausforderung. Das Ärgerlichste an der Armut ist, daß man sie sehen kann, und die sie sehen, denken: da werde ich angeklagt, wer greift mich hier an? Ich hatte aber nicht die geringste Absicht, die Gerechtigkeit auf meinen Kleidern zu tragen. Man sagte zu mir (bald der Arzt, bald die Schwestern): Sie sind gebildet, Sie haben Fähigkeiten. Kämen zehn Personen, die ihre Fähigkeiten nicht besitzen, in deren Genuß, könnten sie damit ihren Lebensunterhalt verdienen. So aber enthalten Sie jenen vor, was sie nicht besetzen und beleidigen mit ihrer vermeidbaren Not die Bedürfnisse der anderen. Ich fragte: Warum diese Vorhaltungen? Steht mir meine Stellung nicht zu? Dann nehmen Sie sie mir doch wieder weg! Ich sah mich von ungerechten Bemerkungen und böswilligen Gedanken umgeben. Und was hielt man mir eigentliche vor? Ein unsichtbares Wissen, für das niemand den Beweis erbringen konnte und das ich selbst vergeblich suchte. Ich war gebildet! Aber vielleicht war ich es nicht die ganze Zeit. Fähig? Wo waren die Fähigkeiten, die man wie Richter sprechen ließ, in ihren Roben, auf Holzgestühl thronend, bereit, mich Tag und Nacht zu verurteilen? Ich mochte die Ärzte ganz gern, ich fühlte mich durch ihre Zweifel nicht herabgesetzt. Lästig war nur, daß ihre Autorität von Stunde zu Stunde wuchs. Man merkte es nicht, aber es sind Könige. Wenn sie meine Zimmertür öffneten, sagten sie: Alles hier gehört uns. Sie warfen sich auf meine Gedankensplitter: Das gehört uns. Sie forderten meine Geschichte auf: Sprich! Und sie war ihnen zu Diensten. Hastig entkleidete ich mich meiner selbst. Ich teilte an sie mein Blut aus, mein Innerstes, ich lieh ihnen das Universum, ich gab ihnen den Tag. Unter ihren ungerührten Augen wurde ich ein Wassertropfen, ein Tintenfleck. Ich unterwarf mich ihnen, ihr Blick durchleuchtete mich bis in den kleinsten Winkel, und als endlich nur noch meine völlige Nichtigkeit gegenwärtig und nichts mehr zu sehen war, hörten sie auch auf, mich zu sehen. Verärgert erhoben sie sich und riefen: Wo sind Sie? Wo verstecken Sie sich! Sich verstecken ist verboten, ist ein Vergehen, und so weiter. Hinter ihrem Rücken gewahrte ich die Gestalt der Lex - des Gesetzes. Nicht die Lex, wie man sie kennt, die streng ist und wenig angenehm. Diese hier war anders. Weit davon entfernt, mich von ihr bedroht zu fühlen, war ich es eher, der sie erschreckte. Allem Anschein nach traf sie mein Blick wie ein Blitz, verging sie unter meinen Händen. Überdies schrieb sie mir lächerlicherweise alle Macht zu und erklärte, mir immer zu Füßen zu liegen. Doch ich durfte um nichts bitten. Und als sie mir das Recht zugestand, überall zu sein, bedeutete das, daß ich nirgendwo einen Platz hatte. Wenn sie mich über alle Mächte stellte, so hieß das: Sie sind zu nichts ermächtigt. Wenn sie sich erniedrigte: Sie achten mich nicht. Eines ihrer Ziele kannte ich: Ich sollte «Gerechtigkeit üben». Sie sagte zu mir: «Jetzt bist du ein besonderes Wesen; niemand vermag etwas gegen dich. Du kannst sprechen, nichts bindet dich; deine Eide brauchst du nicht mehr zu halten, deine Handlungen bleiben ohne Folgen. Du trittst mich mit Füßen, und schon bin ich auf ewig deine Dienerin.» Eine Dienerin? Das wollte ich um keinen Preis. Sie sagte zu mir: «Du liebst die Gerechtigkeit. - Ja, ich glaube schon. - Warum läßt du zu, daß man die Gerechtigkeit in deiner so bemerkenswerten Person beleidigt? - Aber meine Person ist nicht bemerkenswert für mich. - Wenn die Gerechtigkeit in dir schwach wird, wird sie auch in anderen schwach, und diese leiden dann darunter. - Aber das geht die Gerechtigkeit doch nichts an. - Alles geht sie an. - Haben Sie mir nicht gesagt, daß ich etwas Besonderes sei? - Etwas Besonderes, nur wenn du handelst, und niemals, wenn du die anderen handeln läßt.» Sie griff zu nichtssagenden Worten: «Die Wahrheit ist, daß wir uns nicht mehr trennen können. Ich werde dir überallhin folgen, ich werde unter deinem Dach leben, wir werden denselben Schlaf schlafen.» Ich hatte zugestimmt, daß man mich in die geschlossene Abteilung verlegt. Vorübergehend, sagte man mir. Gut, vorübergehend. Wenn wir uns im Freien aufhielten, sprang mir ein anderer Insasse, ein weißbärtiger Greis, auf die Schultern und fuchtelte über meinem Kopf herum. Ich sagte dann zu ihm: «Du bist also Tolstoi?» Der Arzt hielt mich deswegen für ernstlich verrückt. Am Ende trug ich alle Welt auf meinem Rücken spazieren, ein Knäuel engverschlungener Wesen, eine Gesellschaft reifer Männer, die von jener Höhe durch den vergeblichen Wunsch nach Herrschaft, durch unglückselige Kindereien angezogen wurden. Und wenn ich unter ihnen zusammenbrach (schließlich war ich ja kein Pferd), überhäuften mich die meisten Kameraden, die mit mir gefallen waren, mit Schlägen. Das waren fröhliche Augenblicke. Die Lex kritisierte mein Benehmen heftig. «Früher waren Sie ganz anders. - Ganz anders? - Man machte sich nicht ungestraft über Sie lustig. Sie zu sehen, kostete das Leben. Sie zu lieben, bedeutete den Tod. Die Männer hoben Gräben aus und verbargen sich darin, um ihrem Blick zu entgehen. Sie sagten untereinander: Ist er vorüber? Gesegnet sei die Erde, die uns verbirgt. - Fürchtete man mich so sehr? - Die Furcht genügte ihnen nicht, ebensowenig die Lobreden aus tiefstem Herzen, ein aufrichtige Leben oder die Demut, die sich in den Staub wirft. Und überhaupt wünsche ich keine Fragen! Wer wagt schon, bis zu mir zu denken?» Sie machte sich auf eigenartige Weise etwas vor. Sie hob mich hoch, aber nur, um sich daraufhin selbst zu erhöhen: «Sie sind die Hungersnot, der Streit, die Mordtat und die Zerstörung. - Warum all das? - Weil ich der Engel des Streits, des Mordes und des Endes bin! - Nun gut, sagte ich zu ihr, mehr als genug, um uns beide einzusperren.» In Wahrheit gefiel sie mir. Sie war in diesem mit Männern übervölkerten Milieu das einzige weibliche Element. Einmal ließ sie mich ihr Knie berühren: ein sonderbares Gefühl. Ich hatte ihr erklärt: ich bin nicht der Mann, der sich mit einem Knie begnügt. Ihre Antwort: Das wäre auch schlimm. Eines ihrer Spiele ging so: Sie zeigte mir einen Teil des Raums zwischen dem oberen Fensterrahmen und der Decke: «Da sind Sie», sagte sie. Ich betrachtete die Stelle sehr aufmerksam. «Sind Sie da?» Ich betrachtete die Stelle mit meiner ganzen Kraft. «Nun?» Ich fühlte die Narben meines Blicks aufplatzen, meine Augen wurden zur offenen Wunde, mein Kopf war ein Loch, ein aufgeschlitzter Stier. Plötzlich rief sie: «Ah, ich sehe den Tag, oh, Gott», und so weiter. Ich wandte ein, daß mich dieses Spiel ungeheuer ermüde, aber sie war unersättlich nach meinem Ruhm. Wer hat ihnen Glas ins Gesicht geworfen? Diese Frage war in allen Fragen enthalten. Man stellte sie mir nicht mehr ausdrücklich, aber sie war der Knotenpunkt, zu dem alle Wege führten. Man machte mich darauf aufmerksam, daß meine Antwort nichts enthüllen würde, denn seit langem schon sei alles enthüllt. «Ein Grund mehr, nichts zu sagen. - Hören Sie, Sie sind gebildet, Sie wissen, daß Schweigen Aufmerksamkeit erregt. Ihre Stummheit verrät Sie auf ganz törichte Weise.» Ich antwortete den Ärzten: «Aber mein Schweigen ist echt. Wollte ich es vor Ihnen verbergen, würden Sie es ein bißchen weiter weg wiederfinden. Um so besser für Sie, wenn es mich verrät, es nützt Ihnen. Und um so besser für mich, dem Sie nützlich sein wollen.» Sie mußten also Himmel und Erde in Bewegung setzen, um damit zu Rande zu kommen. Ich hatte begonnen, mich für ihre Nachforschungen zu interessieren. Wir waren alle wie maskierte Jäger. Wer wurde gestört? Wer antwortete? Die Rollen waren austauschbar. Die Wörter sprachen allein. Das Schweigen zog in sie ein, ein hervorragender Zufluchtsort, denn niemand außer mir nahm es wahr. Man hatte mich gebeten: Erzählen Sie uns, wie sich die Dinge «wirklich» zugetragen haben. Eine Erzählung? Ich begann: Ich bin weder wissend noch unwissend. Ich habe Freuden gekannt. Ich erzählte ihnen die ganze Geschichte, der sie, wie mir schien, mit Interesse zuhörten, zumindest am Anfang. Aber das Ende überraschte uns alle gleichermaßen: «Nach diesem Anfang», sagten sie, «kommen sie aber jetzt zur Sache!» Wie! Die Erzählung war zu Ende. Ich mußte zugeben, daß ich nicht imstande war, aus diesen Ereignisse eine Erzählung zu machen. Ich hatte den Sinn der Geschichte verloren, das ist bei vielen Krankheiten der Fall. Aber mit dieser Erklärung waren sie noch weniger zufrieden. Ich bemerkte daraufhin zum ersten Mal, daß sie zu zwei waren und daß dieser Verstoß gegen die herkömmliche Methode - wenn auch damit erklärbar, daß der eine ein Experte für Augenleiden, der andere ein Spezialist für Geisteskrankheiten war - unserer Unterhaltung den Charakter eines autoritären, überwachten und streng reglementierten Verhörs verlieh. Gewiß, weder der eine noch der andere war Polizeikommissar. Aber gerade zu zweit waren sie zu dritt, und dieser Dritte war fest davon überzeugt, dessen war ich sicher, daß ein Schriftsteller, ein Mann, der spricht und klar zu unterscheiden weiß, stets in der Lage ist, Begebenheiten zu erzählen, an die er sich erinnert. Eine Erzählung? Nein, keine Erzählung, nie wieder.